Peter Gehrisch: Das gefährdete Gleichgewicht der Welt

Zu Zoltan Böszörményis großem Roman ,,Weicher Körper der Nacht“

Wie bereits auf dem Cover zu erfahren: ,,Ein Flug in die vermeintliche Freiheit, doch dann ist Tamas staatenlos.“ Von diesem Schicksal, einer Odyssee des zum Staaten- und Heimatlosen Verurteilten, erzählt der Roman des Ungarn Zoltan Böszörményi,* womit er in Korrespondenz steht mit der sich über weite Teile des Globus vollziehenden Fluchtmigration. Neben anderen wird das Schicksal Tamas ̓ verfolgt, einer Figur, der der Autor bereits in anderen Romanen Gestalt verliehen hat. Die Erlebnisstruktur, nicht zuletzt geschult an den großen Werken der Moderne und Postmoderne, gehorcht dem generellen Impuls, wie wir ihn etwa bei Boris Pasternaks ,,Ljuwers Kindheit“ entdecken können: dass der Zusammenhang des erfahrenen Lebens – und Böszörményis bisheriger Lebenweg bietet eine Fülle geradezu exotischer Erlebnisse – zunächst in seine einzelnen Elemente aufgelöst werden muss, um in ästhetisch strukturierter Weise erneut zusammengesetzt und eindrucksvoll zu erscheinen.
Im ersten der vier voluminösen Kapitel wird das enigmatisch anmutende Bild des Buchtitels eingeführt, indem wir Zeno, eine der Romanpersonen, am Fenster stehend entdecken, vor dem die Scheinwerfer von Autos vorüberhuschen: ,,Würde ich das Fenster weiter öffnen, könnte ich den weichen Körper der Nacht berühren, seinen dunklen Saint, mein knochig aus dem Fleisch hervorstehendes Leben ... Dennoch ist es mir, als stünde ich inmitten eines Sturms.“ Es spiegelt den ambivalenten Eindruck des Sanften und gleichwohl Trügerischen wieder, eine Beschreibung, die am Ende, nach allen Verwirrungen und Gefahren, als eine kompositionelle Klammer, ergänzt durch Zenos Bekenntnis – ,,mein ... verpfuschtes Leben“ –, wieder erscheint und die Aussage in bedrückendem Maße verstärkt.
Auf diese Weise und aufgrund seiner durchdachten Gestaltung, des Bruchs der gängigen Romantradition, des souveränen Umgangs mit den Textelementen und des findigen Aufbaus der Spannung, besticht Böszörményi hier mit seiner kontextualen Komposition. – Wenn immer wieder über den Tod des Romans philosophiert wird, so straft der Autor mit seiner Erzählkunst dieser Auffassung Lügen. Behauptet wurde, der Roman werde durch die literarische Reportage abgelöst, und durch sie allein lasse sich Wirklichkeit überhaupt erst richtig erfassen und transportieren. Dass dies ein fataler Fehlschluss ist, stellt der Autor mit seiner Erzählkunst unter Beweis. Sein Medium ist jene innere Kraft, die dazu beiträgt, dass sich der Leser mit der ganzen Empfindung seiner Seele in das Romangeschehen hineinversetzen     kann. Von einem nichtfiktionalen, nur Fakten berücksichtigenden Gebilde hingegen geht lediglich kalte Exaktheit und Nüchternheit aus.    

Indessen ist die Methodologie der Romangestaltung in unserer Zeit, seiner Brüche und Metamorphosen bei weitem nicht abgeschlossen. Jeder Autor, der auf seinen Ruf achtet, versucht, das Unmögliche wahr werden zu lassen, indem er die zur Verfügung stehenden    Formen seinem Empfinden entsprechend umsetzt.

Je mehr man in das dichte narrative Geflecht eindringt, desto mehr sind Stilfrakturen zu erkunden. Für die agierenden Personen werden beispielsweise uneingeschränkt Vornamen verwendet, womit eine Lokalisierung, bezogen auf eine Herkunft, kaum noch möglich erscheint. Landesgrenzen werden    passiert, geographischen Namen tauchen aber nicht auf, keine Bezeichnungen für Kontinente,     Staaten, Provinzen, Flüsse oder Berge. Dann wird deutlich, dass auch die Angabe der Beziehungen innerhalb der sozialen Ordnung unkonkret ist, dass Tamás in einer Diktatur zu Hause war, in der eine Geheimpolizei am Werk ist, und dass einige dies verheimlichen, andere berichten ängstlich darüber, aber weder das Land nach sein politisches System werden erkennbar. Das ist auch der Ansatz für das    Funktionieren der zu verwaltenden Gesellschaft: Bekannt ist, dass dass Politik ein Kampf um die Macht ist; welche Macht der Presse zukommt und dass diejenigen, die den Wünschen entsprechend in der Presse schreiben, politisch gesehen, ihr Kapital gewinnen können, aber in welcher verkrüppelten Demokratie dies geschieht, bleibt    ein Geheimnis. In einem solchen Irrkreis hat es der Protagonist nicht leicht, zur richtigen Entscheidung zu gelangen. Schon bei Huxley ist zu erfahren, Liebe und emotionale Leidenschaft gefährden die Stabilität der (Welt-)Regierung. – Als Tamás dann während einer Flugreise ein Buch zu lesen beginnt, in dem eine Detektivgeschichte zwischen Bürgermeister Hugo, seiner Frau Nina, Valér, Arthur, den Anwälten, dem Friseur Viktor, dem vielseitigen Mädchen Lidia  und dem Detektiv Fabian verwoben ist, wird deutlich, der Leser befindet sich in einem gut durchdachten literarischen Kosmos mit einer gängigen Richtschnur: Jede Ähnlichkeit mit der realen Welt kann ebenso möglich wie irreführend sein. Zunächst sympathisiert Tamás mit ihnen allen, doch später, nachdem er alle treibenden Kräfte der Geschichte kennengelernt hat, ist er entsetzt über die Probleme und moralischen Fallstricke der ,,schönen neuen Welt“, die er sich eigentlich wünscht.

Erst dann, ist, wie dazu György    Mandics mitteilt, ,,der allegorische Charakter der dritten Geschichte verständlich, die ihm in Form jenes Groschenromans erscheint. Darin wird der Bürgermeister Zeuge einer anderen Art van Tragödie. Hugo findet in Nina eine begehrenswerte Frau; und van einem Abenteuer zum nächsten landet er in einer homosexuellen Beziehung und findet Trost in Viktor. Viktor erweist sich jedoch als wahre Durchgangspassage und lässt sich mit der Hälfte der Romanfiguren     ein, ebenso wie mit Lydia, Hugos neuer Trösterin. Die Beziehungen, die in Mord und Bluttaten enden, sind Beispiele für die Unzugänglichkeit der Straßen. Tamás ist also auf sich allein gestellt und hofft, ein tugendhaftes Leben werde nicht mit Geld, sondern mit solider Familienliebe belohnt.    

Dass all dies nicht als moralisierende Demonstration fixiert wird, ist nur möglich, weil die Gabe zur Erzählkunst Böszörményi im Blut liegt, und jenseits des strukturellen Rahmens und der moralischen Gleichnisse erscheinen die von ihm dargestellten Helden als lebendige Figuren und liebenswerte Charaktere. Walter ist sich bewusst, dass das politische Leben am Rande der Korruption steht, aber sein Denken ist flexibel und er glaubt, dass er zum Wohle der Gemeinschaft arbeiten kann, da er in seiner journalistischen Laufbahn gelernt hat, falsche Propheten zu entlarven, zu unterscheiden zwischen dem rationalen Profit-Investor, dem Arbeitsplatz- und Wohlstandsschaffenden, dem Kredithai, dem Ritter der Konjunktur, dem Lügner, der die Wählerschaft nur täuscht.    
     
Und im Wahlkampf werden diese Fakten von ihren Kollegen, den Wählern, bestätigt. Die Beziehung von Torz zu Melania und Borbala ist nicht auf charakterliche Mängel zurückzuführen, sondern auf Unterschiede in der Erziehung, die in diesem Alter nicht korrigiert werden können. Walter ist ein sympathischer, freundlicher Mann, dessen positive Eigenschaften sowohl von Tamás und Melania als auch später von Borbala geliebt werden. Doch während Melania Walters übertriebene Männlichkeit überhaupt nicht schätzt, weil sie nicht in den Kanon ihrer religiösen Erziehung ,,passt“, wird sie von Borbala umso mehr bewundert, die sich durch nichts (nicht durch ihren Mann, nicht durch die Folgen für ihr politisches Leben, nicht durch die Angst vor Enttarnung, nicht durch den Einsatz eines Spitzels) davon abhalten lässt, die Beziehung zu dieser Person – Walter – für ihre eigene sexuelle Bedürftigkeit bis zum Schluss nicht zu verlieren.

Ebenso faszinierend ist die Figur der Wanda, der tragischen Gestalt einer schönen Frau, die, von ihrem gierigen sexuellen Appetit getrieben, sich an ihrer Jugend berauscht und lachend alle Grenzen überschreitet. Ihre Liebesschwüre sind immer nur für einen Augenblick gültig, doch sobald die Situation vorbei ist, sucht sie nach neuen Zielen, um ihre Begierden zu befriedigen. Ob es sich um einen jungen Müßiggänger, einen Kellner oder seinen Chef, den Fabrikdirektor Zeno, handelt, sie liebt sie alle gleichermaßen und intensiv in den aufeinander folgenden Stunden ihres jungen Lebens. Und die Kontinuität dieser Sehnsucht ist so natürlich, so unverstellt, dass sie mit einer Danaide vergleichbar ist, deren Leidenschaft endlos erscheint.“

Zenos Tragödie hingegen besteht darin, dass ihm eine solche Frau in die Quere gekommen ist und er diese Beziehung nicht als lockere Affäre leben kann, sondern darin, Wanda ganz und gar besitzen zu müssen. Mit diesem bewusst gewählten Namen, Zeno, ist das sinnreiche Spiel des Autors zu erkennen: Der Name verweist auf den Griechen Zeno von Elea mit seinen berühmten Trugschluss um Achilles und die Schildkröte. Damit verkehrt sich der Zeno im Roman, dem modernen Vexierspiel mit antiken Vorbilden Folge leistend, ins Gegenteil des griechischen Philosophen. ,,Sein Schicksal hatte sich in Luft aufgelöst.“

Tamás hingegen ist der einzige, der die rettende Kraft des Glaubens realisiert. Der Glaube an seine Familie treibt ihn dazu, die am schlechtesten bezahlte Arbeit anzunehmen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, die begehrte Bescheinigung zu erhalten: einen festen Arbeitsplatz, damit er die für die Familienzusammenführung erforderlichen Papiere beantragen kann.

Jedenfalls laufen drei parallele Wege, die Böszörményi in seinem Buch verfolgt, in einem einzigen Punkt zusammen, und dieser Punkt ist mit Tamás̛' unumstößlicher Erkenntnis verbunden: Ohne Glauben erweist sich jede Existenz als sinnlos und leer. Der Weg dorthin beginnt mit einer Konfrontation in der Kindheit des jungen Tamás. Der Vater, augenscheinlich getrennt von seiner Frau, erklärt dem gemeinsamen Jungen: ,,Deine Mutter ist ein sinkendes Schiff. Ich bin die Fähre der Sicherheit.“ – Tamás' Halt aber ist und bleibt die eigene Mutter. Sie ist die Liebe, das Wichtigste im Leben, der Dreh- und Angelpunkt für den strebenden, indes immer auch irrenden Jungen.

So zieht Tamás seinen Weg, vergleichbar dem irrenden Ritter des Hlochmittelalters in der höfischen Literatur, der wie die Helden in ,,Weicher Körper der Nacht“ durch ,,Aventiure“ lernt und zum Eigentlichen vordringen kann. Im Gegensatz zu den anderen Personen ist er es, der, vergleichbar jener christlich determinierten Rittermoral, sich seines Zieles bewusst ist. Im Roman nimmt er eine dreifache Position ein und ist der suchende Ritter der durch beängstigend potenzierte Technik und Gesellschaftsstrukturen gestalteten Gegenwartswelt – ähnlich James Joyces Figuren in ,,Ulysses“, deren Irrgang allgegenwärtig ist und sich statt der 20 Jahre über nur 20 Stunden erstreckt und damit die Ausweglosigkeit im Labyrinth des Immergleichen symbolisiert.

Als Reaktion auf „das gefährdete Gleichgewicht der Welt“ ist ,,Weicher Körper der Nacht“ in Gestalt und Message ein auch für den deutschsprachigen Leser zu entdeckendes Kleinod und reiht sich in die Serie der großen Romane zu Beginn des neuen Jahrhunderts.

Nach dem Tod des bedeutenden Autors Géza Szőcs wurde Zoltán Böszörményi zum Präsidenten des ungarischen PEN-Clubs gewählt. Damit befindet er sich, seinem Horizont an Wissen und Können entsprechend, ohne Zweifel auf dem ihm gebührenden Platz. Mit ihm wird die ungarische Literatur exzellent repräsentiert.

 

* Zoltán Böszörményi, Weicher Körper der Nacht. Roman. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke
448 S., ISBN 978-3-96311-613-1
€[D] 25,00 €


In: Matrix – Zeitschrift für Literatur und Kunst – 2/2022 (68)