Imre Payer zu Zoltán Böszörményis Roman „In Stücke zerrissen“

Nach seinem Erfolgsroman Immer, wenn ich meine Augen schließe und dem von der Kritik hochgelobten Gedichtband Notlandung hat Zoltán Böszörményi seine Leser mit dem inzwischen bereits in dritter Auflage erschienenen Roman In Stücke zerrissen überrascht. Worin besteht das Geheimnis für den Erfolg eines zeitgenössischen Romans, wo doch fortwährend der Tod der Literatur prophezeit wird? Noch dazu, wo doch während der Pandemie keine Möglichkeiten bestanden, das Buch im Rahmen von öffentlichen Lesungen vorzustellen? Die Antwort darauf ist einfach. Ein spannendes Thema und unübliche literarische Lösungen halten die Aufmerksamkeit des Lesers in Atem. In unserer digitalen Welt hat die Literatur es immer schwerer, sich gegenüber den flimmernden Bildern, dem Internet, den verschiedenen musikalischen Adaptationen und den Tausenden von Reizen, die sich Tag für Tag über uns ergießen, zu behaupten.

Ich würde Böszörményis Werk als einen modernen experimentellen Roman bezeichnen, worin der Autor verschiedene Romantypen und literarische Gattungen miteinander verschmilzt. Hierin dürfte der Schlüssel für dessen Lesbarkeit zu suchen sein. Typisch ist dies auch für seine früheren Romane. Auch in Weicher Körper der Nacht, Míg gondolom (Solange ich denken kann) und In den Furchen des Lichts hielt er sich nicht an traditionelle Romanstrukturen. Vielmehr bemühte er sich um Erneuerungen, machte in Anlehnung an zeitgenössische Beispiele der Weltliteratur von gewagten Lösungen Gebrauch.

Der verehrte Leser der vorliegenden Kritik weiß vielleicht nicht, dass sich die Lesegewohnheiten des 21. Jahrhunderts von denen des 19. Jahrhunderts nicht gravierend unterscheiden. Auch damals bildeten vor allem die Frauen die Schicht der treuesten Leser.

Nicht zufällig nehmen auch im Roman In Stücke zerrissen Frauen die Schlüsselpositionen ein. Der Autor ist mit der weiblichen Psyche zutiefst vertraut. Er ist imstande, selbst komplizierte Prozesse darzustellen: die Psychologie der Gewalt, den Zerfall der Persönlichkeit, Ehekrisen und Midlife-Crisis von Frauen, die Ursache für überzogene Sexualität, Emanzipation und Selbstverwirklichung.

Eine andere Besonderheit des Romans besteht darin, dass der Schriftsteller nicht davor zurückschreckt, seine Akteure Philosophen zitieren zu lassen, sodass die Philosophie  als organischer Bestandteil  des Alltags aufscheint. Selbst die Gedichte von Karl Marx darf der Leser zur Kenntnis nehmen. Doch auch Zeitungsartikel, Interviews, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Fotos werden mit dem Text beziehungsweise dem Leben der Romanfiguren verwoben. So begegnen wir unter anderem dem schändlichen Edmund Veesenmayer, dem Vorgesetzten von Eichmann. Doch auch Textanleihen von Dante, Voltaire, Goethe, Shakespeare, Augustinus, Platon, Kant, Nietzsche, Tolstoi, Thomas Mann, Romain Gary, Bolaño, Kazuo Ishiguro und Houellebecq bekommt man zu lesen.

Zwischen Zoltán Böszörményis neuen und früheren Romanen sind spannende Parallelen zu entdecken. Der Autor nutzt, ebenso wie  in Míg gondolom (Solange ich denken kann) sowie der ersten Ausgabe von Weicher Körper der Nacht, auch in seinem jüngsten Roman In Stücke zerrissen eine Rahmenstruktur, dank dem wir die anziehende und freigeistige, etwa dreißigjährige Psychologin Melanie kennenlernen, eine der Schlüsselfiguren des Romans. Dass die Handlung mit ihr beginnt und abgeschlossen wird, dürfte kein Zufall sein. Obwohl die Fäden der Erzählung  um Thomas Larringen gesponnen werden, werden Handlung und Gedanken dennoch von den Frauen bestimmt. Selbst Thomas Larringen, der Hauptheld des Romans, würde  die „prosaischere“ Seite seines Lebens nicht ohne seine findige Frau lösen können. Ebenso wie im Leben oder in der Geschichte, so dreht sich auch in unserem Roman alles um die Frauen. Sie sind die Quellen unseres Lebens. Alle Fäden führen zu ihnen.

An dieser Stelle sei eine bedenkenswerte Melanie-Passage zitiert: „Die Seele ähnelt dem sich nach innen neigenden Lichtkegel eines schrumpfenden Sterns. Mit dem Unterschied allerdings, dass sie keinen magnetischen Gravitationsraum besitzt. Die Lebensereignisse aber werden abgelagert, lasten auf dem Lichtkegel und umschließen ihn, halten die Gefühle gefangen, lassen sie nicht entkommen.“

Auch in der Charakterentwicklung, die jeder Akteur durchmacht, sind die Frauen nach meinem Empfinden wesentlich akzentuierter gegenwärtig. Ihr Schicksal und ihr Charakter  treten deutlicher in den Vordergrund. In Verbindung mit dem Roman sind die Merkmale des Entwicklungsromans hervorzuheben. Zugleich aber lässt sich das Werk auch als Essay-, historischer und Abenteuerroman lesen.

Der Autor ist befähigt, bei der Entstehung des Romans eine große Lebenserfahrung und theoretisches Wissen zu aktivieren. Achten wir nicht nur auf die transportierten Botschaften, sondern auf deren Realisierung und formale Lösungen, dann interessiert uns zugleich das Prinzip, die Art und Weise der Verknüpfung dieses vielfachen Wissens.

Die Textorganisation des Bandes basiert auf einer Montagetechnik, die ein Mosaik entstehen lässt. Hierin finden philosophische Gedankengänge, Sexualität, Erosionen der Persönlichkeit, Beziehungskrisen, historische Befunde und die Existenzberechtigung der Literatur ihren Platz.

Der Autor löst die verschiedenen Verknüpfungen von Zeit, Raum und Geschichte mit fast filmartigen Schnitten. Realistische Prosa, französischer Nouveau Roman, publizistisch-essayistische Erzähleinschübe und Elemente des Briefromans gehen nahtlos ineinander über.

Zeit und Raum sind überwiegend an Kanada gebunden. Dennoch dominiert das ungarische Moment. Man könnte von einer speziellen Aufarbeitung von Trianon reden, von einem nationalen Trauma. Auch hat es den Anschein, als ginge es bei der verwickelten Handlung darum, den Leser, vor allem den jüngeren, für ihm bisher unbekannte historische Zusammenhänge zu sensibilisieren, ihn damit vertraut zu machen. Von einer heftigen Liebesgeschichte und den Zeitungsnachrichten über einen Drogenbaron findet er sich plötzlich inmitten von Veesenmayers Meldung an das Auswärtige Amt des Deutschen Reiches vom 14. September 1943 wieder. Hierbei handelt es sich um einen brisanten Bericht zu Ungarn. Brisant vor allem auch deshalb, weil Josef Eichmann in Ungarn Veesenmayer untersteht. Aus dem Bericht schlägt einem der Atem der Geschichte entgegen. Auch wirft er Fragen zur aktuellen Geschichtsforschung auf.

Die historischen Fäden sind ein wichtiger Aspekt des Romans. Darauf deutet auch dessen Titel hin: In Stücke zerrissen. Wie kann man das Trauma des nationalen Seins, die schrecklichen Folgen des ungerechten Friedensvertrags von Trianon aufarbeiten?  Wie wirkt sich die nationale Tragödie psychisch und intellektuell auf die Menschen aus?

Das historische Thema, vor allem ein so schwerwiegendes nationales Trauma wie Trianon, birgt viele Gefahren in sich. In literarischen Werke mit ähnlicher Thematik überwiegen oft pathetische und belehrende Töne, wodurch den Leser jegliche nationale Trauer noch mehr als ohnehin schon befremdet und er gar nicht mehr versucht, die Triebfedern der Geschehnisse zu verstehen und sich über die damalige Situation zu informieren. Zoltán Böszörményi  findet dafür eine ausgezeichnete Lösung: Die in Kanada lebende Margit, die sich zur Behandlung einer Krankheit in Ungarn aufhält, bringt in ihren an Eva und Thomas geschriebenen Briefen die Trianon-Problematik zur Sprache.

Alsbald machen wir Bekanntschaft mit dem Alltag von zur Torontoer Mittelklasse gehörenden Akteuren. Hier begegnen wir auch zwei Ungarn: der bereits erwähnten Margit und der erfolgreichen Geschäftsfrau Eva, die den Schriftsteller Thomas, ihren Ehemann, zum Erlernen der ungarischen Sprache anhält.

Die Romanfiguren leben in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts. Zugleich sind sie in vielerlei Hinsicht klassische Bürger, denen materieller Wohlstand  und Bildung gleichermaßen wichtig sind. Böszörményi gewährt Einblicke in das materielle, geistige und moralische Leben dieser Gesellschaftsschicht. Wir lernen Menschen kennen, Universitätsprofessoren, Studenten, Rechtsanwälte, Psychologen und Schriftsteller, denen Geld zwar viel bedeutet, die aber dennoch stark an Philosophie und Literatur interessiert sind.

In die realistisch dargestellten Ausschnitte des gesellschaftlichen Lebens finden philosophische und historische Reflexionen Eingang. Die Romanfiguren beweisen eine starke Sensibilität für die Moral des öffentlichen Lebens. Dennoch spielt das Ausleben von Körperlichkeit im Privaten eine große Rolle. Ihre Privatmoral erinnert an die Zügellosigkeit der gegenwärtigen globalisierten Welt. Ein beträchtlicher Teil des Roman macht uns mit Beziehungsproblemen vertraut, ohne dabei auf dichterische  und erotische Beschreibungen zu verzichten. Die lockerste Haltung in Fragen des Geschlechtslebens legen die Psychologin und Studenten an den Tag.

Interessant die psychologische Färbung des Romans, ein selbstironischer Bewusstseinszustand zwischen Schlaf und Wachsein.

Typisch für die Erzähltechnik ist das eklektische Moment. Es scheint, als wollte der Autor den Stil traditioneller Realitätsdarstellung mit dem des existentialistischen, modernistischen sowie Tendenzromans verschmelzen. Dennoch dominiert eher die Diskursivität als die Geschichte als solcher. Denken wir nur an Gyula Krudys Boldogult úrfikoromban (In meiner seligen Zeit als junger Herr)! Wenn auch mit vollkommen anderer Thematik! Die Unterhaltungen in Böszörményis Roman beziehen sich meist auf grundlegende Seinsprobleme, gelegentlich auch auf theologische Fragen.

Im Roman geht der Autor auf spannende Ereignisse ein, beschreibt plastisch Akteure und Geschehnisse. Manchmal kommt es vor, dass er fast schon umständlich detailliert auf Charakterzüge, äußere Erscheinung und Denkweisen seiner Helden eingeht. Dies alles verbindet er mit einer Handhabung der Handlung, die nie Langeweile aufkommen lässt. Durch die Figur Thomas Larringen sinnt er oft auch über die Literatur und das literarische Leben nach. Obwohl der Roman in Kanada spielt, scheint das Gesagte weltweit, so auch in Ungarn, aktuell zu sein.

„In der Literatur geht es um etwas Anderes: um Glück, Verbindungen und Rollenspiele. In der Kampfarena der Literatur werden die Sieger gesteinigt“, sagt Thomas.

 „Schreiben, mein Junge, das ist Ekstase, Verzweiflung, kühner Flug der Gedanken, Feuer und Leidenschaft, metaphysisches Vibrieren, Häresie,  Ablehnung der Wirklichkeit, Reise in die Tiefe der Hölle, der Wille, Spannungen zu schaffen, Qualen und Leiden, keineswegs aber ein Sonntagsspaziergang im Sonnenschein am Ufer des Ontariosees“, erklärt Thomas dem jungen Erzähler, der sich um fachlichen Rat an ihn wendet.

Der Titel des Romans (In Stücke zerrissen) bekräftigt letztendlich auch eine gesellschaftlich-politische Botschaft. Grundlegend angelehnt an die Struktur von dramatischer These-Antithese. Zugleich  wird auch auf die Zerbrechlichkeit von Persönlichkeit und Seele hingewiesen. Trotz eines scheinbar sozialen Wohlstands leiden die Akteure an einer emotionalen Krise. Sie suchen nach sich selbst, werden von ihren seelischen Verletzungen beherrscht.

Die Romanhelden leben im Ausland. Ungarn statten sie höchstens gelegentliche Besuche ab. Die Polemik politischer Fragen gerät im Ausland in ihr Blickfeld, in Toronto. Sie werden zu rationalen, objektiven  und verantwortungsvollen Meinungen geführt. Diese Art geistige Haltung ist für das Wertesystem des Erzählers ausschlaggebend. Hierfür werden zwei bedeutende Zeitdokumente herangezogen: die aus Ungarn verfassten Meldungen des SS-Gesandten und Bevollmächtigten des Großdeutschen Reichs Edmund Veesenmayer sowie die vom ungarischen Friedensdelegationsführer Graf Albert Apponyi in Paris am 16. Januar 1920 gehaltene Rede. Übrigens ist die Gründlichkeit des Autors bezeichnend, so auch die ins Detail gehende Darstellung der Ereignisse. All dies könnte auch als Instrument zwecks Überzeugung seiner Leser bezeichnet werden.

Interessant und sehr unterhaltsam sind jene Teile, in denen Kenny White und Freddy Bloom vorkommen. Die beiden Studenten  arbeiten in einer Autowaschanlage, wo sie die Psychologin Melanie kennenlernen, mit der sie zu dritt schlafen, ohne sich emotional einzubringen. Im Vordergrund steht lediglich der sexuelle Genuss. Die in ein Filmdrehbuch passende Parisreise der beiden jungen Männer beschreibt der Autor spannungsgeladen und kreativ mit Hilfe einer Wiederholungstechnik, die sich auch in einer Tarantino-Produktion behaupten könnte.

Die Fäden von Melanies Liebesbeziehungen führen auch zu dem Freund ihres Ehemannes. Gleichzeitig stellt sich heraus, dass Letzterer ein Verhältnis zu einer Studentin namens Susi unterhält, die sich von Melanie behandeln lässt. Melanies Mann Richard möchte sich scheiden lassen. Doch dann besinnt er sich eines Besseren. Melanie trennt sich schließlich von ihm, nachdem sie von der Liaison mit Susi erfährt. Diese Beziehung, weder mit noch ohne den Anderen leben zu können, deutet auf eine weit verbreitete Krankheit unserer Gesellschaft hin, die zunehmende emotionale Entfremdung.

Im Roman wird auch die Budapester Autorenbuchhandlung eingeführt,  gewissermaßen als Schauplatz für die Grabenkämpfe zwischen den politischen und kulturellen Wagenburgen. Stellvertretend dafür entspinnt sich ein Gespräch zwischen der aus Kanada kommenden Lehrerin Margit und einer Kundin der Buchhandlung. Ein Dialog kommt eigentlich nicht zustande, da man sich den Argumenten gegenüber verschließt. In dieser Szene ist die allgemeine literarische und politische Stimmung in Ungarn unschwer zu erkennen.

Der im Gefängnis einsitzende mexikanische Drogenbaron El Chapo, genannt der Kleine, wird Nacht für Nacht vom Geist Dantes, Voltaires und Augustinus´ besucht. Anderentags zitiert der Häftling gegenüber den Wärtern Passagen aus deren literarischen Werken in der Originalsprache. Diese Szenen repräsentieren einen postmodernen und grotesken Zug des Werks.

In unserer chaotischen Welt sind die Gegensätze  zwischen den einzelnen Menschen beziehungsweise Nationen fast unlösbar. Dennoch muss versucht werden, unsere gemeinsamen Probleme einer Lösung zuzuführen. Zoltán Böszörményi unternimmt in seinem zugleich künstlerischen, historischen und unterhaltsamen Roman die Anstrengung, die Tragödie von Trianon, das nationale Trauma rational aufzuarbeiten.

 


Zoltán Böszörményi, In Stücke zerrissen, Roman, 370 S., Verlag Irodalmi Jelen Könyvek, Budapest, 2020