Von der Wahrnehmung des Universums

Zoltán Bene: Von der Wahrnehmung des Universums

Zu Zoltán Böszörményis neuem Roman In Stücke zerrissen

Zoltán Böszörményis neuer Roman In Stücke zerrissen lässt sich nicht leicht in eine vorgefertigte Schablone zwängen. In der Moderne gibt es keine reinen Kunstgattungen, Untergattungen, kann es auch gar nicht geben. Dieser Roman gehört (auch) in die Moderne. Um das einzusehen, müssen wir nur den Versuch unternehmen, den Titel zu interpretieren! Wir können uns ihm aus wenigstens zwei Richtungen nähern. In Stücke zerrissen deutet auf das Ungarn und das Ungartum nach Trianon hin. Diese Deutung wird durch die bestehenden Analogien in Böszörményis Gedicht In Stücke zerrissene Landschaft unterstützt. Aber der Romantitel deutet auch auf den Zerfall der Homogenität des Menschen hin, auf jenes Phänomen, eines der Grundelemente der Moderne, das Endre Ady durch seinen Gedanken, wonach alles Ganze zerbrochen sei, so plastisch ausdrückt. In diesem Sinne also kann der Titel gleichzeitig lokal und global begriffen werden. Als Symbol dessen, dass die Schichten der menschlichen Welt aufeinander aufbauen. Doch selbst wenn die Globalisierung unserer Zeit diese Schichten mit hoher Geschwindigkeit verschleißt und auf diese Weise immer weniger Schichten die verschiedene Vollständigkeit bilden, so ändert dies doch nichts an der grundlegenden Wahrheit: Der Teil und das Ganze sind voneinander nicht zu trennen, und die Vollständigkeit ist um so ärmlicher, aus je weniger Teilen sie sich zusammensetzt. Die Einordnung des Romans und dessen Determinierung werden weiterhin dadurch erschwert, dass der Autor in seinem Werk Populärkunst mit hoher Kunst bewusst vermischt, Philosophie mit Soziologie, Gesellschaftsschilderung mit Psychologie und natürlich Wirklichkeit – gemäß einer uralten schöpferischen Methode - mit Fantasie. Über seine Methode, eigentlich das Wesen des Romanschreibens, lässt er Thomas Larringen, seinen Helden, folgendes sagen: Ein Schriftsteller setzt seine Vorstellungskraft (auch) ein, um Offenbarungen und Ideen zu verstehen. Was aber geschieht dann, wenn er das Universum mit Hilfe seiner Fantasie zu ergründen sucht? Der Einsatz von In Stücke zerrissen kann als Wahrnehmung des Universums begriffen werden. Denn letztlich verbirgt sich die Welt dort in all ihren Einzelteilen. Zoltán Böszörményi untersucht einige Segmente dieser Welt (nicht einmal so wenige!) unter dem Mikroskop, sodass wir dann im Hinblick auf das Ganze gültige Schlussfolgerungen ziehen können.

Bevor wir aber befürchten sollten, uns auf zirka 400 Seiten mit schwerwiegenden Gedankengängen, philosophischen und psychologischen Analysen auseinandersetzen zu müssen, ist festzuhalten, der Roman ist handlungsreich, die Geschehnisse reißen den Leser mit sich, die Figuren sind wunderbar gezeichnet, sind voller Leben und authentisch. Böszörményi lässt sich mutig auch auf Tabuthemen ein. So beispielsweise auf eine naturalistisch-realistische Beschreibung sexueller Selbstbestimmung (allzeitiger) menschlicher Wesen. Doch ausgezeichnet auch der Auflösungsprozess traditioneller Beziehungsgeflechte wie Neid, Eifersucht,  das Spinnennetz von Interessen und Gegeninteressen in Verbindung mit dem eigenen Erfolg und dem Erfolg Anderer, den alltäglichen Machtinteressen. All diese Elemente pulsieren in Böszörményis Roman!

Neben all dem begegnen wir auch ergreifenden Phänomenen, wie wir ihnen schon in einem seiner früheren Romane, nämlich in In den Furchen des Lichts (Regál), begegnet sind. In Ermangelung eines besseren Begriffs reden wir von  einer transzendenten Immanenz. Darunter ist einerseits ein stark persönlich geprägter Text zu verstehen, in dem der Leser die persönlichen Erfahrungen des Autors spürt. Wodurch  die Erzählung und das, was vom Einzelnen auf das Allgemeine schließen lässt, noch mehr an Authentizität gewinnt. Andererseits kann Böszörményi die Geschichten in einem gewissen Sinne auch von außen betrachten.  Meines Erachtens erweist sich die transzendente Immanenz in der Erzähltechnik Zoltán Böszörményis als eine außerordentliche Tugend.

So angenehm die Lektüre des Romans erlebbar ist, können wir dennoch die philosophischen und literaturtheoretischen, die literatur- und kulturhistorischen Momente nicht außer Acht lassen. Gute Literatur, so meine ich, muss aus relevanter philosophischer Sich immer stark sein. Und das trifft für In Stücke zerrissen zu. Um nur einige Namen zu nennen, die der Autor in seinem Roman erwähnt: Marcus Aurelius, Voltaire, Nietzsche, Wittgenstein, Béla Hamvas, Marx, Dante, Shakespeare, Kleist, Houellebecq und Kauzo Ishiguro. Über diese Denker und Künstler werden letztendlich Böszörményis Ars poetica und seine Überzeugungen umrissen. Unter Berufung auf geistige Vorfahren und Diskussionspartner von Stufe zu Stufe ein eigenes Ideensystem aufzubauen, dabei um jeden einzelnen Gedanken und die Wahrheit zu kämpfen, ist eine Attitüde, die von der Konsumgesellschaft letztendlich zum Verschwinden gebracht wird.

Und natürlich ist der mit Trianon verbundene Erzählfaden von besonderer Wichtigkeit. Böszörményi stellt die größte und schmerzlichste  Tragödie des Ungartums sowohl in gesellschaftlicher als auch philosophischer Hinsicht in den globalen Kontext. Der Grund für diese weitgefasste Perspektive dürfte vermutlich darauf zurückzuführen sein, dass Zoltán Böszörményi nicht nur die Gedankenwelt und Weltsicht der im Mutterland und in den abgetrennten Gebieten lebenden Ungarn,  sondern auch der Ungarn im Westexil hervorragend kennt.

Allerdings erhält nicht nur Trianon besondere Aufmerksamkeit. Auch für die zurückliegenden Jahrhunderte bestimmende Ereignisse der Geschichte werden beleuchtet. Der Autor geht auf die Zeit des Kommunismus ebenso ein wie auf unsere Gegenwart. Dem aufmerksamen Leser dürften die traurigen und beängstigenden Parallelen zwischen den Diktaturen der Vergangenheit und den eigenartig-heimtückischen Konsumzwängen der Gegenwart nicht entgangen sein.

Unerwähnt dürfen auch die Traumata der Handelnden nicht bleiben. Sie spielen sich im Hintergrund ab, gelangen gelegentlich in den Vordergrund. Hierbei handelt es sich um individuelle Erschütterungen, die in den Paarbeziehungen, im Alltag der Menschen beziehungsweise im Erlebnisschatz des Autors wurzeln. Erschütternde Kollektiverfahrungen wie Trianon, das Exil und zivilisatorische Grenzerfahrungen bieten den Rahmen, mit dem die Menschen der Gegenwart zurechtkommen müssen.

Ich glaube, In Stücke zerrissen kann getrost auch als Schlüsselroman gelesen werden. Zugleich dürfte der Roman auch eine Zusammenfassung des Erlebten sein: Rechenschaftslegung und Glaubenbekenntnis. Wenn es üblich ist, Goethes Faust oder Imre Madáchs Die Tragödie des Menschen als Menschheitsdichtung zu bezeichnen, dann dürfte Zoltán Böszörményis  „In Stücke zerrissen“ auf den Begriff eines Menschheitsromans Anspruch erheben.


Zoltán Böszörményi, In Stücke zerrissen, Roman, 370 S., Verlag Irodalmi Jelen Könyvek, Budapest 2020